Jahrzehntelang folgte das Supply Chain Management einem klaren Dogma: Bestände sind Verschwendung. Inspiriert vom Toyota-Produktionssystem und Lean-Management-Methoden, trimmten Unternehmen ihre Lieferketten auf maximale Effizienz. Das Ziel war „Just-in-Time“ (JIT) oder sogar „Just-in-Sequence“. Das Lager wurde auf die Straße verlagert, Kapitalbindung wurde minimiert. Dieses Modell funktionierte hervorragend in einer stabilen, globalisierten Welt mit offenen Grenzen und verlässlichen Transportwegen.
Die Ereignisse der frühen 2020er Jahre – von der Pandemie über die Blockade des Suezkanals bis hin zu geopolitischen Konflikten und Energiekrisen – haben die Fragilität dieses Systems jedoch schonungslos offengelegt. Wenn eine einzige fehlende Komponente im Wert von wenigen Euro die Produktion einer ganzen Fabrik lahmlegen kann, wird die Einsparung von Lagerkosten irrelevant. Der Trend hat sich daher massiv gedreht: Von „Just-in-Time“ zu „Just-in-Case“. Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit der Lieferkette, ist zur neuen strategischen Währung geworden. Dies erfordert eine Neubewertung der Lagerhaltung.
Das Wichtigste in Kürze
- Paradigmenwechsel: Die Minimierung von Lagerbeständen ist nicht mehr das alleinige Optimierungsziel; stattdessen wird Lagerhaltung als notwendige „Versicherungsprämie“ gegen Produktionsausfälle und Lieferkettenunterbrechungen betrachtet.
- Selektive Strategie: Der Bestandsaufbau erfolgt nicht pauschal („Hamstern“), sondern datengestützt und selektiv für kritische Komponenten (Engpassmaterialien), bei denen ein hohes Beschaffungsrisiko auf eine hohe wirtschaftliche Bedeutung trifft.
- Finanzielle Neubewertung: Unternehmen müssen akzeptieren, dass das Working Capital durch höhere Bestände steigt, und dies gegen die potenziell ruinösen Kosten eines Lieferabrisses (Cost of Stock-out) abwägen.
Die Grenzen der Effizienz: Warum JIT in der Krise versagt
Das Prinzip Just-in-Time basiert auf der Annahme einer reibungslosen Logistik. Ein Puffer ist in diesem Modell Ineffizienz. In volatilen Märkten wird diese fehlende Pufferzone jedoch zum fatalen Risiko. Der sogenannte Peitscheneffekt (Bullwhip Effect) sorgt dafür, dass kleine Schwankungen am Anfang der Kette (z. B. ein Rohstoffengpass) sich bis zum Endproduzenten zu massiven Versorgungslücken aufschaukeln.
Unternehmen haben gelernt, dass die „Cost of Resilience“ (die Kosten für Lagerhaltung und Kapitalbindung) oft deutlich niedriger sind als die „Cost of Disruption“ (Kosten durch Bandstillstand, Vertragsstrafen, Kundenverlust). Ein Lagerbestand ist in diesem Kontext keine Verschwendung mehr, sondern ein strategischer Puffer, der die operative Handlungsfähigkeit entkoppelt von den Unwägbarkeiten des Weltmarktes sichert.
Strategische Segmentierung: Was muss gelagert werden?
Die Abkehr von JIT bedeutet nicht, dass Unternehmen nun wahllos alles einlagern sollten („Panic Buying“). Das bindet unnötig Liquidität und belegt teure Lagerfläche. Erforderlich ist eine präzise Segmentierung des Portfolios.
Hierbei kommt eine erweiterte ABC/XYZ-Analyse zum Einsatz, oft ergänzt um eine Risikobewertung (manchmal als „LMN-Analyse“ bezeichnet):
- Kritische Komponenten (Hohes Risiko / Hoher Wert): Hier liegt der Fokus des strategischen Bestandsaufbaus. Dies sind Teile, die schwer zu beschaffen sind (Single Sourcing), lange Lieferzeiten haben (z. B. Halbleiter aus Asien) und für das Endprodukt unverzichtbar sind. Hier werden Reichweiten von mehreren Monaten aufgebaut.
- Standardteile (Niedriges Risiko / Hoher Verbrauch): Für C-Teile (Schrauben, Standardkabel), die bei mehreren regionalen Lieferanten verfügbar sind, kann weiterhin ein JIT-ähnlicher Ansatz oder ein Vendor-Managed-Inventory (VMI) gefahren werden. Ein großer Sicherheitsbestand ist hier oft nicht nötig, da die Wiederbeschaffungszeit kurz ist.
- Strategische Rohstoffe: Bei volatilen Rohstoffmärkten (Stahl, Kunststoffe) dient das Lager auch als „Hedging“-Instrument (Preisabsicherung). Man kauft große Mengen, wenn der Preis niedrig ist, um sich gegen Inflation abzusichern.
Dezentralisierung und Multi-Sourcing
Ein resilientes Lagerkonzept betrifft nicht nur die Menge („Wie viel?“), sondern auch den Ort („Wo?“). Das zentrale Megalager ist effizient, aber anfällig (z. B. bei lokalen Lockdowns oder Naturkatastrophen).
Die Strategie geht hin zu dezentralen Strukturen. Unternehmen nutzen Satellitenlager oder Hubs in der Nähe ihrer wichtigsten Absatzmärkte oder Produktionsstätten. Dies reduziert die Abhängigkeit von der „Letzten Meile“ und dem Fernverkehr.
Eng verknüpft ist dies mit der „China Plus One“-Strategie im Einkauf. Lagerbestände werden genutzt, um die Zeit zu überbrücken, die benötigt wird, um bei einem Ausfall des Hauptlieferanten (z. B. in Asien) einen alternativen Lieferanten (z. B. in Osteuropa oder lokal) hochzufahren. Das Lager erkauft dem Einkauf die Zeit für das Umschalten (Switching).
Finanzielle Implikationen: Working Capital Management
Der Aufbau von Beständen belastet die Bilanz. Vorräte binden Kapital (Working Capital), das nicht für Investitionen oder Tilgungen zur Verfügung steht. Zudem entstehen Lagerhaltungskosten (Raum, Personal, Versicherung, Schwund, Obsoleszenz).
Finanzvorstände (CFOs) und Supply Chain Manager (CSCOs) müssen hier eine neue Balance finden. Die klassische Kennzahl „Lagerumschlagshäufigkeit“ (Inventory Turnover) darf nicht mehr isoliert als alleiniger KPI für Effizienz dienen. Sie muss ins Verhältnis zur Lieferbereitschaft (Service Level) und dem Risikofaktor gesetzt werden.
Viele Unternehmen nutzen mittlerweile intelligente Finanzierungsinstrumente wie Inventory Financing (Lagerfinanzierung) oder Konsignationslager-Modelle, bei denen die Ware zwar physisch beim Kunden liegt, aber bis zur Entnahme im Eigentum des Lieferanten verbleibt. Dies entlastet die Bilanz des produzierenden Unternehmens, während die physische Verfügbarkeit gesichert ist.
Die Rolle der Digitalisierung: Transparenz ist Pflicht
Ein höheres Bestandsniveau erhöht die Komplexität. Um nicht in einem Chaos aus veralteten Beständen und ungenutztem Kapital zu enden, ist Digitalisierung zwingend erforderlich.
- Digital Twin der Supply Chain: Unternehmen simulieren Szenarien („Was passiert, wenn der Hafen Hamburg 10 Tage streikt?“), um die optimalen Sicherheitsbestände dynamisch zu berechnen.
- KI-gestützte Prognosen: Moderne ERP-Systeme nutzen KI, um Nachfrageschwankungen und Lieferzeiten präziser vorherzusagen. Ein „statischer“ Sicherheitsbestand weicht einem „dynamischen“ Puffer, der sich den Marktgegebenheiten anpasst.
- Echtzeit-Tracking: Nur wer genau weiß, was im Zulauf ist (Inventory in Transit), kann seine Bestände im Lager optimal steuern.
Fazit: Die neue Balance
Die Rückkehr zur Lagerhaltung ist kein Rückschritt in alte Zeiten, sondern eine Anpassung an eine neue Realität. Resilienz kostet Geld, aber mangelnde Resilienz kostet im Ernstfall die Existenz.
Unternehmen müssen ihre Lagerbestände als strategisches Asset begreifen. Es geht nicht um „Lager voll machen“, sondern um den gezielten Aufbau von Puffern an den kritischen Knotenpunkten der Wertschöpfungskette. Just-in-Time bleibt ein valides Konzept für stabile, lokale Prozesse – für die globale Supply Chain jedoch ist „Just-in-Case“ die robustere Antwort auf die Unwägbarkeiten des 21. Jahrhunderts
